Erfahrungsbericht zum Auslandssemester 

Wien, Wintersemester 2012/2013 (Bachelor)

Meine Entscheidung, ein Jahr in Wien zu studieren, hing wesentlich vom Angebot der Universität Wien ab. Psychologie hat an der Universität Wien einen besonderen Stellenwert, was sich bereits darin ausdrückt, dass Psychologie eine eigene Fakultät an der Universität Wien ausmacht, an der rund 8000 Studierende eingeschrieben sind. Diese Größe ermöglicht eine inhaltliche Vielfalt, die den Studierenden in einem sehr breiten Lehrveranstaltungsangebot zugute kommt. Ich habe Seminare zu Psychosomatik, Bindungsforschung, Bedeutung von Beziehungen, Coaching, Scheidungsforschung, sozialer Interaktion, Führung in Organisationen und systemischen Interventionen belegt, wodurch mir sehr spannende Vertiefungen möglich waren, ohne mich für einen übergreifenden Schwerpunkt entscheiden zu müssen. Dabei war es für mich einerseits sehr bereichernd, eine Universität mit anderen Forschungsschwerpunkten kennenzulernen, insbesondere habe ich jedoch von den Dozenten profitiert, die selbst primär praktisch arbeiten und neben ihrer Forschungsexpertise auch Erfahrungen und Kompetenzen aus der klinisch- und wirtschafts- psychologischen Praxis vermitteln konnten. An der Universität Wien wird in der Lehre eine Synthese zwischen Theorie und Praxis gelebt, die ich als sehr fruchtbar wahrgenommen habe und woraus ich viel für mich mitnehmen konnte. Als Erasmus-Student an der Universität Wien befindet man sich in der privilegierten Situation, jeden Kurs besuchen zu dürfen, ohne die für die regulären Studenten obligatorischen Vorlesungen, die den Seminaren vorgestellt sind, besuchen zu müssen. Durch diese Freiheit darf man sich die Rosinen aus dem großen Angebot zusammensuchen, was für mir ein sehr lehrreiches Studienjahr ermöglicht hat. Die Lehrveranstaltungen sind ähnlich organisiert, wie an den deutschen Universitäten, wobei ich sehr viel kreativere didaktische Konzepte erlebt habe, als die klassischen Referate-Seminare, die in Heidelberg überwiegen. Die Anforderungen bestehen meistens aus Mitarbeit, aktiver Stundengestaltung und einer Seminararbeit. Unter der Größe der Universität leidet die Betreuung der Studierenden ein wenig, wobei man als Erasmus-Student immer auch auf eine sehr bemühte und freundliche Fachkoordinatorin und ein sehr engagiertes Erasmus-Büro zurückgreifen kann.

Wohnen

Der österreichische Auslandsdienst versorgt Erasmus-Studenten mit Wohnheimsplätzen (https://www.oead.at). Wenn man den ÖAD mit einem Zimmer beauftragt, hat man den Vorteil, sich um nichts kümmern zu müssen. Für diesen Luxus muss man allerdings meist auch höhere Preise in Kauf nehmen, als es auf dem privaten Wohnungsmarkt der Fall ist. Hinzu kommt, dass viele Wohnheime nur Doppelzimmer anbieten, welche dann zwar recht günstig sind, aber man bereit sein muss, mit einer unbekannten Person auf engem Raum zusammenzuleben, was aus meiner Erfahrung oft schwierig war. Ich habe mich für eine private WG entschieden, was ich im nach hinein auch zukünftigen Erasmi empfehlen würde. Viele Angebote bietet ein Portal, auf dem auch Jobs vermittelt werden (https://www.jobwohnen.at). Ich habe meine WG via Skype kennengelernt, was mir sogar eine Fahrt für die Zimmersuche erspart hat.

Finanzen

In Österreich wird von allen Banken ein kostenloses Konto für junge Erwachsene (meist unter 30) angeboten, das sehr unkompliziert eröffnet und wieder geschlossen werden kann. Man verfügt dann über eine Bankomatkarte, bei der man bei jedem Geldautomat (bzw. Bankomat, wie die Österreicher sagen) innerhalb der EU kostenlos Geld abheben kann. Das Preisniveau ist in Wien deutlich höher als in Deutschland. WG-Zimmer für um die 300 Euro sind schon eine Rarität und eher in den Außenbezirken zu finden. Lebensmittelpreise sind höher, aber oft ist die Qualität auch besser. Eine Melange, der klassische Wiener Kaffee bestehend aus Espresso und viel Milch, kostet in den alten Kaffeehäusern schon mal vier Euro. Trotzdem sollte man sich ab und an den berühmten Kaffeehäusern einen Besuch abstatten, denn die Atmosphäre ist wirklich bezaubernd. Man sitzt in alten grünen Samtsesseln unter alten Kronleuchtern und bekommt köstlichen Kaffee. Bleiben darf man solange man will, die Wiener selbst sitzen oft Stunden im Café und nutzen das riesige Zeitungsangebot. Sehr fair sind die Preise des öffentlichen Nahverkehrs (https://www.wienerlinien.at). Ein Semesterticket kostet 75 Euro und gilt in allen Bussen, Straßenbahnen, U-Bahnen und Zügen, die innerhalb von Wien verkehren. Von Schwarzfahren würde ich abraten, da viel kontrolliert wird und die Strafe bei 100 Euro liegt, die auch erbarmungslos eingefordert wird.

Kulturelles

Wie schon erwähnt gehören die Kaffeehäuser sicher zu den Besonderheiten Wiens. Besonders empfehlenswert sind Griensteidl, Café Central und der Bräunerhof, die alle im ersten Bezirk zu finden sind. Auch in den Randbezirken kann man sehr schöne Kaffeehäuser finden, in denen dann auch keine Touristen mehr sind. Besonders das Theater-, Oper- und Konzertangebot ist in Wien hervorragend. Für Studenten gibt es sehr günstige Karten, die man meist eine Stunde vor Vorstellungsbeginn erwerben kann. Da sitzt man schon mal für 5 Euro in der zweiten Reihe. Gibt es keine Stundentenkarten, sind Stehkarten eine noch günstigere Alternative. Auch die Museen in Wien absolut einen Besuch wert. Hier gibt es ein sehr breites Angebot, vom naturhistorischen Museum bis zum Museum für moderne Kunst. Im Sommer ist es im Museumsquartier sehr schön, da viele junge Leute sich mit einem Aperitif auf die großen Plätze setzen und die lauen Abende auskosten. Im Winter ist die Stadt ein Weihnachtsmärchen, an jeder Ecke sind Christkindlmarkt-Stände aufgebaut und es riecht nach heißem Punsch. Auch das Nachtleben ist nicht zu verachten ­ es gibt eine Vielzahl gemütlicher Pubs, besonderer Clubs und ausgelassener Partys.

Empfehlung

Ich hab mich bei der Entscheidung, meinen Erasmus-Aufenthalt in Wien zu absolvieren, immer wieder gefragt, ob ich nicht etwas verpasse, wenn ich an meinem Zielort keine neue Sprache lerne. Im nach hinein bin ich aber sehr froh, meinem Gefühl gefolgt zu sein und dieses Jahr in Wien verbracht zu haben. Wien ist wirklich eine wunderschöne Stadt, die alles zu bieten hat, was man sich wünschen kann. Dabei ist die Stadt jedoch gleichzeitig noch überschaubar, so dass die Wege sich auf maximal eine Stunde Fahrt beschränken, woran in anderen Großstädten nicht zu denken ist. Auch die Hektik, die man aus London oder Paris kennt, ist hier nicht zu finden. Die Wiener sind entspannt und humorvoll ­ so schnell bringt man niemanden aus der Ruhe. Und da man die Sprache beherrscht, findet man sich schnell zurecht und kann auch den Lehrveranstaltungen mühelos folgen. Ich würde Wien jedem empfehlen, der Lust auf Großstadt hat und bereit ist, sich von dieser Perle verzaubern zu lassen.